Wie im letzten Kapitel beschrieben, ist der Gesprächsbeginn in der Erstberatung für die Ratsuchenden häufig gar nicht einfach. Manchmal allerdings gibt es konkrete Vorfälle oder auch Veränderungen innerhalb der Dienststelle, nach denen ein Mobbingprozess begonnen hat. Diese lassen sich dann natürlich direkt benennen.
Ein Beispiel soll das kurz verdeutlichen: Eine Erzieherin arbeitet in einer Kindertagesstätte im Gruppendienst. Seit Jahren gibt es ein weitgehend unterstütztes pädagogisches Konzept. Als die Leitung der Kindertagesstätte wechselt, wird zunächst die hierarchische Struktur der Einrichtung verändert, danach auch das pädagogische Konzept nicht nur in Frage gestellt, sondern als nicht brauchbar abgeschafft. Die erwähnte Erzieherin war seinerzeit nicht nur die Begründerin dieses pädagogischen Konzeptes, sondern auch die einzige, die verschiedene spezielle Aus- und Fortbildungen zu den entsprechenden Arbeitsschwerpunkten der Kindertagesstätte hatte. Dementsprechend kam sie natürlich ständig in fachliche Diskussionen mit der neuen Leitung. Ihre Kolleg*innen unterstützten sie dabei zunächst. Die hierarchische Umstrukturierung durch die neue Leitung hatte initial auch zur Folge, dass die betroffene Erzieherin ihren inoffiziellen Status als fachliche Leitung innerhalb der Kindertagesstätte verlor. Natürlich machte ihr dies sehr zu schaffen. Es führte über die Zeit aber auch zu mehr und mehr aufbrechenden alten Konflikten mit den Kolleg*innen, die seinerzeit gegen die Einführung des pädagogischen Konzeptes waren, sich aber nicht durchsetzen konnten. Dazu kam, dass die neue Leitung – tragischerweise sehr betriebwirtschaftlich und wenig pädagogisch ausgebildet – auf pädagogische Konzepte entsprechend wenig Wert legte. Da die Erzieherin weiter an ihrem pädagogischen Konzept festhalten wollte, kam es mehr und mehr auch zu heftigen Konfliktlagen mit der neuen Leitung. Diese unterstellte der Erzieherin immer mehr persönliche Motivationen, sich entsprechend für das alte Konzept stark zu machen. Unmerklich, aber immer stärker werdend, wurde der Konflikt mit der neuen Leitung immer mehr auf persönliche Ebenen übertragen. Letztlich ging es nicht mehr um fachliche Diskussionen, sondern eher um Attacken, die von der Leitung zunehmend gewollt unter die Gürtellinie der Erzieherin ging. So wurde sie zum Beispiel in Dienstbesprechungen von der Leitung persönlich angegriffen.
“Ja, wir wissen ja alle, dass du aufgrund deiner Fortbildung denkst, etwas Besseres zu sein!“ Dies ist ein Satz, den ich aus dem Mobbingtagebuch der betroffenen Erzieherin noch erinnere. Solche Situationen wurden nicht mehr die Ausnahme im Arbeitsalltag, sondern schleichend veränderte sich die Arbeitsatmosphäre und zunächst genauso schleichend die Isolation der Erzieherin. Dazu kam erschwerend, dass die ursprünglichen Gegner*innen des pädagogischen Konzepts sich nun auf der Siegstraße wähnten. Gepaart mit stetig wachsendem Hohn und Verachtung wurde die ehemals fachliche Leitung nun verpönt und immer weiter isoliert. Die Unterstützer*innen des alten fachlichen Konzeptes verstummten mehr und mehr aus Angst, sie könnten aufgrund ihrer fachlichen Ausrichtung die nächsten Ziele von persönlichen Attacken der neuen Leitung werden. Im Gegenzug verstärkte dies natürlich die Isolation der Erzieherin, die nun keinerlei Rückhalt mehr an ihrem Arbeitsplatz genießen konnte. Die komplette Isolation innerhalb der Dienststelle trieb sie immer weiter in den Zustand der inneren Kündigung. Zunächst fiel sie längere Zeit arbeitsunfähig aus. Dann kündigte sie tatsächlich und trat eine neue Stelle an. Glücklicherweise fand sie einen Arbeitsplatz als stellvertretende Leitung einer anderen Kindertagesstätte. Im letzten Kontakt, den ich mit ihr hatte, strahlte sie, dass es ihr nun wieder richtig gut gehe und ihr die Arbeit wieder Spaß mache. Diese Dame hatte in unserem Erstgespräch natürlich keinerlei Probleme, die Schwierigkeiten und Problemlagen, mit denen sie an der Arbeit konfrontiert ist, darzustellen. Aber auch sie tat sich schwer damit, die gesundheitlichen – vor allen Dingen psychischen – Folgen dieses Konfliktes darzustellen.
Dies ist eine Situation, die ich sehr häufig erlebe. Offenbar gibt es häufig so etwas wie einen inneren Anspruch an sich selbst, dass man Dinge, die man an der Arbeit erlebt, gut wegstecken können müsste. Dabei verbringen wir doch einen nicht unerheblichen Zeitanteil des Tages eben genau dort und sind im besten Fall hoch motiviert und auch identifiziert mit dem, was wir tun. Wenn es nun genau an dieser Stelle Probleme und Konflikte gibt, warum sollten wir dann eigentlich nicht emotional reagieren? In diesen Momenten der Erstberatung gibt es dann häufig Verwunderung darüber, dass ich ermutige, den Emotionen freien Lauf zu lassen. Ratsuchende haben in aller Regel eher erwartet, dass die Beratung sehr sachlich und nüchtern, gegebenenfalls sogar juristisch, ablaufen wird. Natürlich wird die betriebliche Konfliktlage auf dieser Ebene von mir angeschaut und zusammen mit der Rat suchenden Person Strategien entwickelt, wie nun besterdings vorgegangen werden könnte. Jedoch würden solche Bemühungen meines Erachtens ins Leere laufen, wenn die Ratsuchenden damit beschäftigt sind, ihre immer weiter nach oben drückenden Emotionen zu verbergen.
Dies soll nicht bedeuten, dass ich alle Handlungen für angemessen halte. Vielmehr bringe ich damit meinen Respekt und meine Akzeptanz zum Ausdruck und versuche zu verstehen, wie der vor mir sitzende Mensch zu diesen Handlungen gekommen ist. Man könnte auch sagen, ich versuche die innere Wahrheit dieses Menschen zu ergründen und zu verstehen.
Dabei ist für mich stets oberstes Gebot, nicht zu werten! Schon diese Haltung ist für viele Menschen sehr ungewohnt. Wir sind es einfach gewohnt, dass unser Gegenüber es entweder gut oder schlecht wertet, was wir tun oder lassen. Wertungen wären aber in meiner Art der Beratung nicht zielführend. Letztlich geht es auch nicht um die Bewertung des Tuns meines Gegenübers. Wenn ich letztlich eine passgenaue Beratung entwickeln möchte, kann ich mich nicht von meinen eigenen inneren Wahrheiten und Wertesystemen lenken lassen. Dies würde zu völlig schiefen Beratungsergebnissen führen müssen.
Letztlich soll ja eine Strategie entwickelt werden, in der die oder der Ratsuchende nicht nur persönlich profitiert und sich sein Wohlbefinden im besten Fall deutlich stabilisiert, sondern auch aufgezeigt werden, wie mit dem schädigenden beruflichen Umfeld in guter Art und Weise umgegangen werden kann. Mit „guter Art und Weise“ meine ich in aller Regel deeskalierende Strategien und Schlichtungsbemühungen. Natürlich geht es manchmal nicht ohne Eskalation ab. Vor allen Dingen dann, wenn es sich um „Bossing“, also Mobbing von oben nach unten in der Hierarchie, dergestalt handelt, dass sozusagen der Personalkörper durch Mobbing verkleinert werden soll, wenn der Geschäftsführung Kündigungen nicht durchbringbar erscheinen. In solchen Fällen kann eine Eskalation, gegebenenfalls sogar unter Einsatz eines Fachanwaltes für Arbeitsrecht, durchaus zielführend sein.
Zudem sind solche Bemühungen ganzheitlich betrachtet auch alles andere als gesund.
Nach Analyse der Konfliktlage kommen mehrere Optionen der Intervention infrage. Diese werden von mir zunächst angesprochen und dann zusammen mit der Rat suchenden Person bewertet. Als relativ moderate Intervention rate ich natürlich – falls nicht längst geschehen – das Gespräch mit der gegnerischen Person. Das setzt natürlich voraus, dass die*der Ratsuchende dazu bereit und in der Lage ist. Und natürlich muss auch die entsprechende Kolleg*in dazu bereit sein. Häufig hat es durch initiale Erklärungsversuche solche Gespräche bereits gegeben. Diese haben dann nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Ein anderer Versuch könnte sein, die vorgesetzte Person in die Konfliktlage einzuweihen und entsprechend zu informieren.
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die vorgesetzte Person nicht Initiator*in oder gar selbst der*die Konflikttreibende ist. Kurz gesagt: Dies geht nur, wenn es sich nicht um „Bossing“ handelt. Letztlich kann es lohnend sein, sich an den Betriebsrat oder Personalrat und gegebenenfalls die Schwerbehindertenvertretung des Betriebes zu wenden. Häufig ist auch dies schon geschehen, jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen ohne Erfolg geblieben . Ich erlebe einige Personalvertretungen in Situationen eskalierte Konflikte oder gar Mobbing häufig sehr unsicher. Dies ist ein Grund dafür, dass ich regelmäßig mehrtägige Seminare für diese Zielgruppe zum Thema Mobbing und eskalierte Konflikte anbiete. Dazu habe ich eine zweiteilige Seminarreihe entwickelt, die sich sehr eng an den betrieblichen Realitäten orientiert und eine Menge Informationen und Erfahrungen für die Teilnehmer*innen bietet. Aber auch in kleiner Runde empfehle ich manchmal ein Dreiergespräch mit der betroffenen Person, der Personalvertretung und mir. Ziel ist, die Personalvertretung zu informieren und für mögliche betriebliche Interventionsmöglichkeiten weiter zu sensibilisieren.
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe, welche Interventionsmöglichkeiten weiterhin zur Klärung einer eskalierten Konflikt-oder gar Mobbingsituation zur Verfügung stehen.
Bitte schreiben Sie mir gerne ihre Erfahrungen mit Mobbing unter torsten.gottschall@mobbingnetzwerk-nord.de